Liebe Elfi,

ich habe nicht gedacht, dass ich dir jetzt zum letzten Mal schreibe. Als ich im Mai zum Muttertag dich angerufen habe, ging es dir noch sehr gut. Wie immer hast du nach mir und meiner Tochter gefragt. Du hast auch gefragt, ob ich noch Kontakte mit meiner alten Heimat hatte. Als du erfuhrst, dass wir im Sommer nach China fahren werden, hast du dich sehr gefreut. Als ich im Juni erfuhr, dass du im Krankenhaus warst, haben Cui Bin und ich dich besucht. Du hast tief,  fest und ruhig geschlafen, schmerzfrei. Ein paar Tage später ist das Mail von Zhongliang gekommen, dass du für immer von uns gegangen bist. Ich wollte diese Nachricht nicht wahrnehmen und nicht glauben, dass du nicht mehr unter uns bist.

Ich werde nie vergessen, dass du uns (den damaligen jungen Studierenden aus China) ein Zuhause in Graz geschafft hast. Du hast uns fast jede zweite Woche eingeladen und aufgekocht. Deine Wohnung war ein Treffpunkt für uns und wir haben uns wie zu Hause gefühlt. Du warst die österreichische Mama für uns alle.

Ich werde nie vergessen, dass du uns bzw. mich so oft auf Konzerte, Opernaufführungen, Ausflüge und Reisen eingeladen hast. Du hast uns in die österreichische Gesellschaft eingeführt, sodass wir gut integriert sind.

Ich werde nie vergessen, dass du bei den Diskussionen über die Entwicklung Chinas immer für China gesprochen hast und immer die besten Wünsche für China geäußert hast.

Ich werde nie vergessen, dass du stets stark und positiv warst. In den letzten Jahren haben wir uns nicht so oft gesehen. Du hast meine Angebote immer höflich abgelehnt. Ich weiß, du wolltest niemanden belästigen und belasten.

Liebe Elfi, wie kann ich all diese Erinnerungen und Erlebnisse vergessen! Sie sind schon längst ein Teil meines Lebens.

Über die große philosophische Frage, was ist der Sinn des Lebens, muss jeder für sich eine Antwort finden. Aber ich denke, wenn ein Mensch seine Umgebung beeinflußt hat, dann hat er sinnvoll gelebt. Liebe Elfi, ich habe so viel von dir gelernt! Dein Optimismus zu Schicksalsschlägen, deine Zufriedenheit, deine Selbständigkeit, deine Bescheidenheit und deine Dankbarkeit werden mich weiterhin prägen und Stütze meines Lebens sein. Ich hoffe, du hast auf diese Art und Weise dein Leben auch vollendet.

Liebe Elfi, ich weiß, du wirst diesen Brief nicht mehr lesen können. Aber ich weiß, du wirst ihn hören.

In der Zukunft werde ich dir nicht mehr mit Stift und Papier schreiben, aber in meinem Herzen werde ich dir wie bis jetzt aus Urlaub, zu Weihnachten und zu Muttertag die besten Wünsche schicken und über mich, meine Tochter und meine alte Heimat berichten, Jahr für Jahr! Abgemacht!

Deine Xiaoli